Domenico Scarlatti

 

Zur harmo-
nischen Struktur

Das "gewöhnliche" Modulationsschema der Barockzeit ist auch bei Scarlatti oft anzutreffen, es geht dabei um das Halbschluss-Ganzschluss-Prinzip. Dabei stehen der Halbschluss auf der Dominante und der Ganzschluss auf der Tonika. Scarlatti wäre jedoch nicht Scarlatti, wenn es auch auf diesem Gebiete nicht zahlreiche Ausnahmen geben würde, die sehr eigenwillig und sicher für die Zeit äußerst ungewöhnlich sind. Es handelt sich hier um harmonische Strukturen, die auch in späteren Epochen der Musikgeschichte in ihrem Erscheinen einmalig sind. Alle im Folgenden besprochenen Ausnahmen sind eingegeben durch musikalische Logik, die für Scarlatti deutlich einen höheren Stellenwert hatte als die strengen Regeln der Musiktheorie, an die er scheinbar nie richtig geglaubt hat. Er war wohl der erste, der überzeugt war, dass Verbote die kreative Freiheit nur einschränken können. Durch sein Werk hat er die Musiktheorie oft hart in Frage gestellt. Auch hier liegt wieder der Bezug zur Modalität, die sich ja in aller Freiheit entfalten konnte. Dieses Recht hat Scarlatti auch für sich in Anspruch genommen und konsequent durchgesetzt. Einige seiner Erneuerungen auf diesem Gebiet sind nach ihm nie wiederholt worden. Das ist bezeichnend für seinen Mut und seine unkonventionelle Einstellung, die im Wesen jedoch konventioneller ist als die aller seiner Zeitgenossen, da sie sich auf Prinzipien der Modalität gründet. Man kann sich fragen, ob Scarlattis Musik wirklich ohne Vorbehalte der Tonalität zugeordnet werden kann. Für viele dort erscheinende Elemente stimmt das sicher, für viele andere ebenso sicher nicht. So ist Scarlatti für die Musiktheorie zum Problem geworden, die jedoch solange ihren Namen zu Recht trägt, als die Praxis ihre Unfähigkeit erweist.

Was nun die genannten Ausnahmen betrifft, will ich mich in diesem Rahmen auf einige markante Beispiele beschränken. Alle diese Beispiele sind in der Geschichte der Tonalität ungewöhnlich und oft einmalig, solange man sich darauf beschränken will, diese Musik als rein tonal einzuordnen. Hier ist eine einmalige Chance durch alle Besserwisser nicht erkannt worden. Es betrifft die Chance der Symbiose zwischen modaler und tonaler Musik, die Scarlatti (als Einziger) realisiert hat. Die Bedeutung dieser Folgerung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Obwohl die Musiktheorie und auch die Verleger außerstande sind, damit etwas Vernünftiges anzufangen, liegt genau an diesem Punkt die Einmaligkeit Scarlattis. Die offizielle Musiktheorie beschäftigt sich am liebsten gar nicht mit Scarlatti, und die Wertschätzung, die er von seinen Zeitgenossen Händel und Bach erfahren hat, wird totgeschwiegen. So weit, so gut. Was jetzt die Verleger betrifft, komme ich noch einmal kurz zurück auf die Ausgabe ausgewählter Sonaten der Edition Schott. Alle Sonaten, in denen Elemente erscheinen, die nicht unzweideutig der Tonalität zugeordnet werden können, sind eliminiert - beinahe, um Scarlatti für ihre eigene Ignoranz zu strafen. Er muss genannt werden, man kommt leider nicht drum herum, die Leute fragen danach und schließlich ist es ein Markt, aber nicht genannt sollen seine wirklich außerordentlichen Leistungen sein!

Es verhält sich ja leider so, dass die Tonalitätsschwätzer, die sich dadurch auszeichnen, dass sie rein gar nichts von der Tonalität verstehen, sich nicht auf das unsichere Gebiet der Modalität wagen und sich darauf schon gar nicht einlassen. Es ist bis heute unbegreiflich, dass die gängige Musiktheorie sich nicht anders zu helfen weiss, als Phänomene der Musik, die sowohl vor als auch nach der Tonalität angesiedelt sind, nur durch die Tonalitätsbrille unter die Lupe nehmen zu können oder besser umgekehrt: dass sie sie durch die Tonalitätslupe unter ihre Brille nehmen, was wohl die wahrscheinlichere Lösung des Rätsels ist.

Nachdem diese unvermeidlichen Dinge ein für allemal geklärt sind, kehren wir zu Scarlatti zurück und halten ihn fortan frei vom Odium der Theoretiker und gewisser Verleger.

1. Die Tonalität des Halbschlusses

Es gibt Dur-Sonaten, deren Halbschluss auf der Dominante endet, jedoch in Moll. Als Beispiele von mehreren nenne ich die Sonaten K518 und K545. Die Idee hinter dieser Art des Umganges mit Modulationen, die auch für die Dur-Sonaten, deren beiden Teile in Moll enden, gilt, ist schon im Kapitel über Form erklärt worden. Es betrifft Sonaten mit zwei gegensätzlichen Hauptmotiven, die in diesen Fällen aus Dur und Moll bestehen. Konsequent angewendet, ist kein anderes Ergebnis möglich als bei Scarlatti. Und er war konsequent. Das wird vielleicht noch deutlicher beim Typus der Dur-Sonaten, deren beide Teile in Moll enden. Herausragendes Beispiel ist die Sonate K107.

2. Dur - Moll

Der erste hier zu besprechende Typus sind zweiteilige Dur-Sonaten, deren beide Blöcke in Moll enden. Die schon genannte Sonate K107 setzt nicht nur Dur und Moll gegeneinander, sondern auch Tonalität und Modalität, die letztere inspiriert vom Flamenco. Das konsequente musikalische Denken Scarlattis liess ihn beide Blöcke in Dur beginnen und in Moll enden. Es betrifft hier eine Prozedur, die in der Geschichte der Tonalität sehr selten vorkommt. Nach Scarlatti hat nur noch Chopin in seiner 2. Ballade eine ähnliche Prozedur angewendet. Es ist leider unbekannt, ob Chopin Scarlattis Musik gekannt hat.

Einige Male kommt auch der umgekehrte Typus vor: Sonaten in Moll, die mit Dur-Blöcken enden (z.B. die Sonaten K174 oder K519).

Daneben existiert noch ein vierteiliger Typus A - B - A - B, wie schon im Kapitel zur Form der Sonaten erklärt, wobei z.B. die A-Teile in Moll und die B-Teile in Dur stehen (z.B. die Sonate K176). Zur weiteren Unterscheidung voneinander sind die A-Teile langsam und die B-Teile schnell.

3. Plötzliche unvorbereitete Tonartwechsel

Eines der überraschungselemente in Scarlattis Musik sind plötzliche unvorbereitete Tonartwechsel nach sehr entlegenen Tonarten. Oft finden diese nach dem Halbschluss statt wie z.B. in der Sonate K488 in B-Dur. Der Halbschluss endet in F-Dur, also der Dominante. Der zweite Teil beginnt in Des-Dur. Der Ton f, Grundton des Halbschlusses, wird zur Terz von Des-Dur transformiert.

Dieser hier nur kurz gestreifte Reichtum in Form und harmonischer Struktur ist in der Musikgeschichte der Barockperiode absolut einmalig. Neben "normalen" Strukturen gibt es auch Strukturen, die nicht wegzuleugnen sind, weil sie eben da sind. Und doch werden diese ignoriert. In den Kapiteln zu den vier Schaffensperioden wird näher auf diese Materie eingegangen.

 

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